Stefan Bruweleit: Die vier Erwählten. Roman.
Inhalt
Prolog 7-9
Teil I
Die Gemeinde der Erwählten 10-211
Teil II
Prolog 212-215
Mefied 216-279
Amadeus 280-338
Wolfgang 339-421
Mefieda 422-541
Epilog 542-545
Zitate 546
Prolog
Wann ist eine Geschichte es wert, erzählt zu werden?
Wieder und wieder war mir diese Frage durch den Kopf gegangen, bevor ich mich schließlich an die Niederschrift dessen machte, was ich dir, geneigter Leser, hiermit vorlege, sei es nun zum Entsetzen oder aber zum Ergötzen. Und diese Frage ist im vorliegenden Fall umso berechtigter, da ich als Zeuge zumindest eines Teils der geschilderten Vorfälle ein ganz natürliches Interesse an der Geschichte entwickelt hatte, das selbstredend nicht von jedem geteilt werden muss. Weist sie also irgendwelche Vorzüge auf, die sie lesenswert machen?
Ist diese Geschichte etwa schön oder erbaulich?
Nein, weder das eine noch das andere kann man ruhigen Gewissens behaupten.
Enthält sie dann wenigstens eine Moral oder eine Lehre, die dem Leser von Nutzen sein mögen?
Ach, wenn ich das nur wüsste. Mir ward beim Schreiben oft so wirr im Kopf, dass ich fast verzagen und es mir scheinen wollte, der ganze Tintenfluss werfe mehr Fragen auf als er beantworte.
Oder hat das Schicksal den Autor mit einer Kunstfertigkeit im Schreiben gesegnet, die dem Leser zumindest einen ästhetischen Genuss bietet, wenn sich schon partout keine Lehre aus dem Gelesenen ziehen lassen will?
Definitiv nicht.
Liegt die Existenzberechtigung dieser Niederschrift also einzig darin, dass schon zuvor so mancher Schreiber ohne viel Federlesen ein Buch in die Welt geworfen und sich dann in der Hoffnung zurückgelehnt hat, Imagination und guter Wille des Lesers würden schon etwas Rechtes daraus machen?
Ich denke, ganz so hart sollte man mit dieser Geschichte nun auch wieder nicht ins Gericht gehen. Denn abgesehen davon, dass die in ihr geschilderten Vorfälle sich wirklich ereignet haben, zeichnet sie sich durch eine Besonderheit aus, die meines Dafürhaltens alleine schon rechtfertigt, dass man sie erzähle: die Außergewöhnlichkeit nämlich ihrer Helden. Ob man sie in ihrer Tragik groß zu heißen habe, das wage ich nicht zu entscheiden; vielleicht hatten sie ja gar keine Wahl, als so zu handeln, wie sie es eben taten. Aber ohne jeden Zweifel hat das Schicksal sie auf Wege geführt, die nur wenigen Menschen bestimmt sind. Und dass diese Wege nicht von heiterem Sonnenlicht beschienen, sondern von Dornen und Tränen übersät waren, mag an unsere Menschlichkeit appellieren, mit unserem Mitgefühl zumindest einen bescheidenen Ersatz zu leisten für das, was das Schicksal ihnen vorenthalten hat.
Aber ich will hier nicht zu viele Worte über Dinge verlieren, die der Leser doch nur für sich selber entscheiden kann. Nur noch einige Erläuterungen zur Entstehung dieses Buches seien gegeben.
Wie das Geschick es wollte, so wurde ich in dieselbe Gemeinde geboren wie unsere vier Helden, von denen ich erzählen möchte. Einige der hier geschilderten Ereignisse habe ich als Augenzeuge selber miterlebt, andere habe ich durch Interviews mit Beteiligten in Erfahrung bringen können. Meine Hauptquelle aber stellen zwei Tagebücher dar, auf die ich im Vorwort zum zweiten Teil noch eingehen werde. Sie stammen von zwei der Hauptcharaktere und bieten tiefe Einblicke in das Innenleben der Betreffenden, ohne welche vieles nur bloßes Mutmaßen hätte bleiben müssen, und gewiss handele ich in ihrem Interesse, wenn ich diese Einblicke nun veröffentliche, denn auch sie werden geahnt haben, dass ihr Schicksal längst kein persönliches ist, sondern vielmehr dem Menschheitserbe angehört.
Und nun, werter Leser, bleibt mir nur noch, dich willkommen zu heißen in der Gemeinde der Erwählten.
Teil I
Die Gemeinde der Erwählten
Der Vater wirkte ernst.
Das war im Grund nicht ungewöhnlich.
Der Vater wirkte nämlich meistens ernst.
Und das kam daher, dass er ein sehr frommer Mann war, der den Großteil der ihm gewährten Zeit mit dem Studium der heiligen Schrift verbrachte. Und wenn das stechende Blau seiner Augen, die seine Gegenüber bisweilen zu durchbohren drohten, ihm ein leicht gestrenges Aussehen verlieh, so wollen wir doch nie vergessen, dass es sich hierbei einzig um die Strenge des Gerechten handelte, die so gerne missgedeutet wird und die im vorliegenden Falle eindeutig durch das Lächeln gemildert wurde, das regelmäßig um die Lippen des Vaters zu spielen pflegte.
Von dem Lächeln aber fehlte heute jede Spur und auf seiner Stirn hatte sich noch eine tiefe Querfalte gebildet, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Familienoberhaupt gerade von einem Problem ganz besonderen Ausmaßes bewegt war.
»Es besteht also kein Zweifel?«, fragte er den Gemeindearzt, der ihm gegenüber am Küchentisch saß.
»Nein«, erwiderte der Angesprochene, und bereits an dieser Stelle sollten wir unmissverständlich klarstellen, dass es sich hier nicht um den Arzt irgendeiner Gemeinde handelte, sondern um den Arzt von keiner anderen als der Gemeinde der Erwählten. Und dieser erwählte Arzt schüttelte nun zur Bekräftigung seiner Antwort außerdem noch den Kopf. »Nein«, wiederholte er. »Es gibt keinen Zweifel. Sie ist schwanger. Ich habe alle möglichen Untersuchungen gemacht.«
An der Gründlichkeit des Arztes zu zweifeln, dazu hatte der Vater nicht die geringste Veranlassung, und so nickte er nur und fuhr sich mit der Hand durch das bereits von ersten grauen Strähnen durchzogene Haupthaar. Um das Dilemma, in dem sich nicht nur die beiden Männer, sondern die gesamte Gemeinde befanden, in seinem ganzen Ausmaß begreiflich zu machen, müssen wir an dieser Stelle erwähnen, dass die betreffende Frau seit mehreren Jahren verwitwet war.
Der Arzt schabte sich das Kinn und blickte kurz zur Zimmerdecke. »Seine Exzellenz besteht auf einen Prozess«, sagte er dann.
Der Vater nickte erneut. Seine Exzellenz, damit war der Gemeindeführer gemeint, und wenn Seine Exzellenz auf einen Prozess bestand, so würde der Prozess aller Erfahrung nach auch stattfinden.
»Es klingt so unglaublich. Sollte so etwas bei uns möglich sein?«, fragte er.
»Auch wenn es unglaublich scheint und wir es am liebsten vergessen würden, so ist es doch passiert«, erwiderte der Arzt, der zu spüren schien, welche Qualen der Vater litt. »Sie ist schwanger, und wie es aussieht, stammt das Kind von keinem von uns. Sie behauptet, dass es vom Mächtigen der Mächtigen stamme.« Der Arzt lachte auf.
Der Vater sah ihn nachdenklich an. Dann sprang er auf und marschierte ruhelos vor dem Küchenofen auf und ab. Hinter der schön gewölbten Stirn arbeitete es offensichtlich schwer, wie schon an den Augen zu sehen war, die nun wieder leuchteten und Blitze zu schleudern schienen.
»Aber nehmen wir einmal an, es stimmt, was sie sagt.«
»Du meinst, dass das Kind vom Mächtigen der Mächtigen stammt?« Um die Lippen des Arztes bildete sich der Anflug eines Lächelns, der jedoch sogleich wieder verschwand, als er das ernste Gesicht des Vaters sah.
»Ist es denn so undenkbar?« Die Stimme des Vaters klang nun fast flehend. »Ist es unmöglich, dass der Mächtige der Mächtigen uns Seinen Sohn sendet?«
Der Arzt schien verwirrt. »Warum sollte er das tun?
Der Vater zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht.«
»Nein, das ist unmöglich. Seine Exzellenz meint auch, dass es unmöglich ist. Er hat die Schrift und die Kommentare extra noch einmal durchgesehen. Da steht nichts, was darauf hindeuten würde, dass der Mächtige der Mächtigen uns gerade jetzt Seinen Sohn schicken sollte.«
Der Vater zuckte erneut mit den Schultern, doch der Umstand, dass auch Seine Exzellenz nicht an den göttlichen Ursprung des Kindes glaubte, schien ihn etwas zu beruhigen und zumindest einige seiner Zweifel zu zerstreuen.
»Und außerdem«, fuhr der Arzt fort, »muss das Kind zur Zeit der Großen Ferne gezeugt worden sein. Meinst du, dass der Mächtige der Mächtigen Seinen göttlichen Samen gerade zu dieser Zeit einer Sterblichen in den Schoß getragen hätte?«
Vielleicht werden wir noch Gelegenheit finden, über die Zeit der Großen Ferne zu sprechen. Hier wollen wir nur bemerken, dass es die finsterste Zeit des Jahres ist, in der – und auch in diesem Punkt war man sich einig – die Macht des Bösen am stärksten ist.
Auch wenn die letzten Zweifel des Vaters noch nicht verflogen waren, so verfehlten die Worte des Arztes die Wirkung auf ihn doch offensichtlich nicht.
»Nein, glaube mir, es besteht keinerlei Grund, dass der Mächtige der Mächtigen uns gerade jetzt Seinen Sohn schicken sollte.« Er lachte auf. »Was sollte der wohl hier!«