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Stefan Bruweleit: Inspektor Kolluvies und der Kaiser von K. (Anfang des Romans)

 

»Donnerwetter!«, sagte Inspektor Kolluvies und pfiff anerkennend, als die beiden Sicherheitsbeamten unter reichlichem Gestöhne endlich das schwere Eisentor aufgeschoben hatten und dieses den Blick auf eines der erhabensten Gebäude freigab, das ich bis zu jenem Zeitpunkt gesehen hatte. Ja, ich denke, erhaben ist der passende Ausdruck, um das zu beschreiben, was sich nun vor uns auftat. Erhaben und gleichzeitig machtvoll wohl auch, durch die Ausgeglichenheit der einzelnen Bauelemente aber gleichsam eine Harmonie ausstrahlend, die dem Kolossalen des Gebäudes alles Erdrückende oder gar Bedrohliche nahm und im Betrachter vielmehr das Gefühl einer ästhetischen Vollkommenheit hervorrief. Aus zwei Etagen schien es auf uns herab. Das Licht drang aus zwei Gängen, die oben wie unten hinter je einer Fensterreihe verliefen und direkt bis an die beiden Türme reichten, die die Frontseite an der West- und an der Ostseite abschlossen und deren oben spitz zulaufende Dächer das Gebäude ein ganzes Stück überragten und sich deutlich vor dem nächtlichen Sternenhimmel abhoben. Hervorgerufen wurde dieser Eindruck von Harmonie und Ausgeglichenheit nicht zuletzt durch die strenge Symmetrie zwischen Ost- und Westflügel, während die ganz beträchtliche Ausdehnung in der Breite das Gemäuer trotz allem Kolossalen schlank und elegant wirken ließ. Der Weg, auf dem wir uns nun befanden, führte direkt zu einem Vorbau, dessen Dach auf beiden Seiten von jeweils vier Säulen getragen war und der mithin die Symmetrieachse des gesamten Gebäudes zu bilden schien. Sowohl oben als auch unten lagen jeweils sechs Fenster rechts und links von dem Vorbau. Und mehr noch als die Säulen und die Ausdehnung in der Breite waren es die schlanken, oben bogenförmig zusammenlaufenden Fenster, die dem gesamten Bauwerk eine Eleganz und Erhabenheit verliehen, die sich schwer nur in Worte fassen lassen.

Lange standen wir da, jeder von uns wohl von ganz ähnlichen Empfindungen der Ehrfurcht durchdrungen. Als Erster riss sich der Inspektor aus seinen Betrachtungen, nickte den beiden Beamten zu und wir setzten uns in Bewegung. Ich ließ den Blick über die ausgedehnte Parkanlage rechts und links von uns schweifen, die von mehreren Scheinwerfern am Tor beleuchtet wurde, und bemerkte, dass diese ähnlich symmetrisch angelegt war wie auch das Gebäude. Auf genau gleicher Höhe befanden sich auf beiden Seiten je ein gewaltiger Springbrunnen, die auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch in Betrieb waren und im Abstand von wenigen Sekunden die Wassermassen gut zehn Meter in die Höhe schießen ließen; kaum waren sie sturzbachartig in den Becken aufgeschlagen, da erhoben sich auch schon die nächsten beiden Fontänen, zeitlich exakt aufeinander abgestimmt, nur um wenige Augenblicke später wieder in sich zusammenzubrechen. Auch die Blumenbeete und die Obstbäume hatten auf der Gegenseite ihre genauen Spiegelbilder, ja, solchermaßen war die Symmetrie ins Extrem getrieben, dass nicht nur jedem Kirschbaum ein Kirschbaum und jedem Apfel- ein Apfelbaum entsprach, sogar in genau derselben Weise beschnitten schienen die Bäume.

Und in dieser symmetrischen Erhabenheit also residierte er, der Premierminister unseres Departements und die einsame Lichtgestalt in der Politik, auf der die Hoffnungen abertausender gesetzestreuer Bürger ruhten. Jahrelang bereits hatte Adolf Denkel die Geschicke unseres Departements mitbestimmt, hatte als Staatssekretär, als Minister und schließlich als Premierminister und Vorsitzender der FPP, der Fortschrittlich Progressiven Partei, den Bürgern gedient und unser Departement zu dem weltoffenen und fortschrittlichen Gemeinwesen gemacht, um das uns viele unserer weniger fortschrittlichen Nachbarn beneideten. Doch dunkle Wolken waren aufgezogen über K., der Hauptstadt des Departements. Jahrelang schon war gemunkelt worden über anarchistische Bewegungen in der Hauptstadt und kaum eine Ausgabe der K.schen Rundschau konnte man in der letzten Zeit aufschlagen, in der nicht von irgendwelchen anarchistischen Umtrieben die Rede gewesen wäre. Und als hätte es nicht genügt, dass sich Denkels famose Regierung beständig mit dem anarchistischen Treiben herumschlagen musste, so war in der jüngsten Vergangenheit im politischen Leben zudem ein Subjekt namens Theophrastus Kayser aufgetaucht, der seinen Namen offensichtlich als Omen auffasste, eine erzkonservative Politik vertrat und Denkels fortschrittliche Errungenschaften am liebsten wieder ungeschehen machen wollte. In welcher Beziehung Kayser zu den anarchistischen Umtrieben stand, das ließ sich mit letzter Gewissheit schwer bestimmen, doch wenn man die Berichterstattung der K.schen Rundschau und auch die offiziellen Regierungserklärungen genau verfolgte, so konnte man kaum daran zweifeln, dass es irgendeine Verbindung zwischen Kaysers Partei und den Anarchisten geben musste. Doch bedenklicher noch als Kaysers Beziehung zu den Anarchisten war der Umstand, dass viele Bürger naiv genug waren, dessen Tiraden Glauben zu schenken und geneigt schienen, diesem bei den in wenigen Wochen anstehenden Wahlen ihre Stimme zu geben, denn eine Umfrage hatte ergeben, dass Kayser in der Gunst der Wähler bereits vor Denkel lag und nun neuer Premierminister zu werden drohte.

Und zu den politischen Sorgen, mit denen Denkel und somit auch das gesamte Departement zu kämpfen hatte, gesellte sich eine weitere und sogar noch gewichtigere, und diese war der Grund dafür, dass uns diese kühle Oktobernacht fernab von unserem Morddezernat in N. in der Hauptstadt sah.

Wenige Tage zuvor nämlich hatte Denkel eine Morddrohung erhalten.

Aus fünf Worten nur hatte die in ungelenken Druckbuchstaben geschriebene Botschaft bestanden, die sogleich am folgenden Tag per Eilkurier unserem Dezernat zugestellt wurde: Du wirst sterben, du Hochverräter!

Lange hatte der Inspektor über die Kopie der Drohung gebeugt dagesessen und schließlich den Kopf geschüttelt. Ja, und auch er wird sich gefragt haben, in was für einer Zeit wir nur lebten, wenn nicht mehr Vernunft und Menschlichkeit die Politik unseres Landes bestimmten, sondern brachiale Gewalt. Und nichts spricht beredter von dem Ruhm und dem Ansehen, die der Inspektor mittlerweile genoss, als der Umstand, dass man nicht die Polizeibehörden der Hauptstadt mit der Untersuchung des Falles beauftragte, sondern eben ihn, der erst im vergangenen Jahr so eindrucksvoll bewiesen hatte, dass er sich auf dem Höhepunkt seiner Kombinationsgabe befand, als er den vertrackten Fall des Feuerreiters gelöst hatte. Ja, und all seine Kombinationsgabe würde es bedürfen, das stand schon damals für mich fest, wollten wir verhindern, dass in unserem Departement, vielleicht gar im ganzen Land, die Mächte der Anarchie die Geschicke bestimmten.

Wir betraten nun den Säulengang, dessen Boden, von mehreren Deckenlampen sanft beschienen, aus feinstem Marmor gefertigt war, und schritten an den vier gewaltigen Säulen auf jeder Seite auf das Eingangstor zu. Dieses war nicht minder imposant als der Säulengang und mehr noch als bei diesem ließ sich hier der Hang des Architekten zum Kolossalen erkennen. Die Ausmaße dieses Tores übertrafen gar noch diejenigen des Tores an der Straße, durch das wir just eingetreten waren, besonders beeindruckend waren die beiden Klopfer in den Initialen unseres Gastgebers, auf der linken Seite ein A, rechts ein D. Ich trat an das kunstvoll geschwungene A und berührte es vorsichtig mit dem Zeigefinger. »Ist das Ding etwa aus Gold?«, fragte ich.

Der Inspektor zog die Stirn in Falten und zog nun das D ein Stück zu sich heran, versuchte offensichtlich das Material aus dem Gewicht und der Farbe zu identifizieren. Schließlich nickte er. »Sieht ganz so aus.«

»Angst vor Dieben scheint man hier nicht zu haben«, bemerkte ich.

»Wenn sich jemand die Mühe macht, in diese Festung hier einzubrechen, wird er es kaum auf die Türklopfer abgesehen haben«, erwiderte der Inspektor und hatte damit gewiss Recht. Mit gewöhnlichen Türklopferdieben würden wir es hier in der Hauptstadt vermutlich nicht zu tun bekommen. Er zog das D ein weiteres Mal vor und ließ es gegen das Tor prallen. Ein gongähnlicher Laut drang durch die Nacht, und erst jetzt erkannte ich, dass in die rechte Seite des Tores noch eine Tür eingelassen war, die das D trug und ebenfalls noch herrschaftlich genug aussah, gewiss aber wesentlich leichter zu bewegen war als das riesige Tor. Es dauerte dann auch gar nicht lange, bis die Tür sich öffnete und vor uns ein Mann zwischen sechzig und siebzig Jahren erschien. Zur ehrwürdigen Miene trug er eine Uniformjacke aus feinstem karmesinroten Stoff mit vergoldeten Schulterstücken und dazu eine dunkelblaue, nicht minder elegant geschnittene Uniformhose, und ich fragte mich, wie viele Monatsgehälter ich wohl würde opfern müssen, um alleine die Jacke zu bezahlen.

»Ich darf Sie im Namen Seiner Exzellenz des Premierministers willkommen heißen, meine Herren«, sprach der Mann in zu seiner äußeren Erscheinung passender Vornehmheit, noch bevor der Inspektor uns vorstellen konnte. Er deutete eine Verbeugung an und forderte uns mit einer Handbewegung zum Eintreten auf.

»Ich danke Ihnen vielmals«, erwiderte der Inspektor mit einem Kopfnicken und wir traten ein.

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