Stefan Bruweleit: Meister Walpurgius und der Fluch auf dem Schloss zu Pfützlibach.
Anfang des Romans:
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Auch wenn es bereits tiefe Nacht war, als ich erst-mals das Schloss der von Pfützlibachs erblickte, ließ sich doch sogleich erkennen, dass es schon weitaus bessere Tage gesehen haben musste. Das Dach, das matt in dem fahlen Mondschein glänzte, wies an mehreren Stellen deutlich erkennbare Löcher auf, die nur notdürftig mit einer Plane oder Brettern verschlossen waren; weiter hinten, an der Nordseite des Gebäudes, war ein Teil des Daches, so meinte ich zu erkennen, schon ganz eingestürzt. Die Regenrinne des Turmes, der die Vorderfassade an der Ost-seite abschloss, war aus der Verankerung gerissen und erweckte bei flüchtigem Hinsehen den Eindruck, als baumele das jüngste Opfer einer Lynchjustiz vom Dach. Die Hecken, die die Auffahrt zu beiden Seiten säumten, waren dermaßen ins Kraut geschossen, als seien sie seit Jahren schon nicht mehr geschnitten worden, und auch die Rasenflächen rechts und links vom Eingang waren so verwildert, dass sich eine Kuh ohne Probleme hätte darin verstecken können.
Und doch, auf eine mir nur schwer erklärliche Weise, meinte ich, durch all den Verfall noch den Hauch der einstigen Pracht zu verspüren, der das Schloss einmal umweht haben musste, als sich hier noch Fürsten und Herzöge die Hand gereicht und zu glanzvollen Festen versammelt hatten. Aber das war lange her. Und es war auch nicht das Schloss und seine Geschichte, die uns hierher geführt hatten, son-dern vielmehr die jetzigen Herren aus dem Hause der von Pfützlibach. Ursprünglich aus der Schweiz stammend hatten sich die Pfützlibachs irgendwann im 17. Jahrhundert im gar nicht fern gelegenen L. angesiedelt und dort über Jahrzehnte hinweg ein bescheidenes Dasein geführt, bis einer ihrer Abkömmlinge, ein gewisser Johannes Pfützlibach, eine gar ruhmvolle Heldentat im Dienste Herzog Kasimirs des Schwermütigen vollbrachte, woraufhin dieser ihn kurzerhand mit einem von adelte und außer-dem noch mit einem kleinen Anwesen ganz in der Nähe von L. beschenkte. Dort lebten die fortan ge-adelten Pfützlibachs und konnten durch Fleiß und Geschäftstüchtigkeit ein ansehnliches Vermögen zusammentragen, das es in unserem Jahrhundert Balthasar von Pfützlibach ermöglichte, das Schloss zu erwerben, auf das wir in einer stürmischen Oktobernacht nun also zuschritten. Zunächst erging es Balthasar und seiner bald anwachsenden Familie noch recht wohl, bevor ihn einige Fehlspekulationen zwangen, seinen Lebensstandard recht drastisch einzuschränken und schließlich gar noch einen Teil des Schlosses in ein Hotel umzuwandeln, um den finanziellen Ruin zu verhindern. Zunächst wollte das Geschäft auch gar nicht schlecht angehen, zumal die malerische Umgebung mit seinen Wäldern und Seen durchaus seinen Reiz für Erholung und Zerstreuung Suchende hat, doch aus Gründen, die ich im Einzelnen nicht kenne, machten sich die Gäste in den letzten Jahren einigermaßen rar, was schließlich das bedauernswerte Resultat zeitigte, das wir nun vor uns sahen. Drei Wochen zuvor nun war Balthasar von Pfützlibach verstorben, und das Schloss wurde seitdem von seinem jüngsten Sohn Jonathan geleitet. Der Grund unseres Besuches aber war ein anderer Todesfall, der sich vor vier Tagen zugetragen hatte. Vier Nächte zuvor nämlich hatte Jonathan nach seinem Vater auch noch seine Ehefrau Penelope ver-loren, und die Umstände ihres Todes waren nicht anders als, wie wir in Fachkreisen zu sagen pflegen, mysteriös zu bezeichnen.
Ich habe im Vorangehenden wiederholt in der Pluralform wir gesprochen und nun scheint es mir an der Zeit, dass ich zunächst einmal mich vorstelle. Ich heiße Dödler, Waldemar Dödler, und mir kam die Ehre zu, Assistent eines Mannes zu sein, dessen – ja, ich meine, so hat man es zu nennen – dessen Tragik darin bestand, dass sich seine Meisterschaft, sein Genie auf einem Gebiet entfaltete, das es offi-ziell gar nicht gab noch gibt. Denn niemand anders als der einmalige Meister Walpurgius war es, an dessen Seite ich in jener stürmischen Nacht auf das Schloss der von Pfützlibach zuschritt. Offiziell waren wir Beamte des Morddezernats N. Wann immer eine gehörnte Ehefrau ihren Mann vergiftete, ein wut-schnaubender Angestellter seinem Chef einen Brieföffner zwischen die Rippen jagte, so zogen wir aus, ermittelten, überführten, brachten hinter Gittern und … langweilten uns zu Tode. Und gewiss hätten wir längst schon den Dienst quittiert, gäbe es da nicht immer wieder jene Fälle, die weder mit Geisteswitz noch bloßem Beamtenfleiß zu lösen sind, sondern die eine Gabe voraussetzen, die dem Meister durch Schicksal und Abstammung in die Wiege gelegt worden war. Der Meister war nämlich ein direkter Nachkomme des Mannes, der im 16. Jahrhundert unter dem Namen Meister Schrapnellus ganze Heerscharen von Dämonen in die Abgründe der Hölle zurückgejagt hatte und bereits zu Lebzeiten eine Legende geworden war. Über unzählige Generationen war sein Erbgut weitergereicht worden, bis es schließlich in vollendeter Form den Mann erreichte, der alle seine Vorfahren in den Schatten stellen sollte: Meister Walpurgius.
Denn Meister Walpurgius ist ein Geisterjäger.
Oder wie die offizielle Amtsbezeichnung lautet: ein venator daemoniorum.
Und ich bin sein Adept.
Monatelang schon waren wir durch das Tal der Ödnis und der Langeweile geirrt, hatten uns mit Fällen herumgeärgert, die jeder Provinzpolizist hätte bearbeiten können, und mit jedem Tag war die Miene des Meister verdrießlich und verdrießlicher ge-worden, bis uns am heutigen Nachmittag der Polizeipräsident in sein Büro gebeten hatte. Schon der Umstand, dass er uns mit einer Handbewegung aufgefordert hatte, doch Platz zu nehmen, hatte in mir die Hoffnung keimen lassen, das ermüdende Einerlei mochte nun ein Ende haben und man würde uns endlich einen Fall übertragen, der unseren Fähigkeiten würdig sei. Und ich sollte mich nicht getäuscht haben.
Mit ernster Miene berichtete uns der Polizei-präsident vom Tode des alten Balthasar, und wir zögerten nicht, ihm unser tiefstes Mitgefühl auszusprechen, denn uns war bekannt, dass die beiden miteinander befreundet waren. Er dankte und ließ uns weiterhin wissen, dass vor erst wenigen Tagen auch Penelope, Jonathans Gemahlin, ihr Leben ausgehaucht habe. Scheinbar ein klarer Fall. Ein Unfall eben, wie er von Zeit zu Zeit vorkomme, und doch … und hier nun hob der Präsident bedeutungs-schwer den Zeigefinger der linken Hand. »Und doch ist da irgendetwas seltsam, denn kurz vor ihrem Tod soll der armen Penelope der verstorbene Balthasar von Pfützlibach erschienen sein.« Die Art, in der er nun mit dem Kopf nickte, sagte uns alles, was wir wissen mussten. Ich spürte, wie sich mein Puls beschleunigte, und sah bei einem Seitenblick auf den Meister, wie dessen Augen zu funkeln und dessen Spitzbärtchen aufgeregt auf und ab zu hüpfen begannen. Es war also endlich wieder soweit, und nur kurze Zeit später hatten wir unsere Sachen gepackt und uns auf den Weg gemacht.
Und hier nun standen wir vor der verwitterten, aber immer noch einen Abglanz einstiger Erhabenheit verströmenden Frontfassade des Schlosses, und wie stets bei solchen Gelegenheiten überkam mich dieses seltsame, aus Demut, Erregung und Vorfreude gemischte Gefühl, das sich stets einzustellen pflegte, wenn ein großer Fall seinen Anfang nahm. Ich blickte zum Meister, und wenn der Mond auch nur einen matten Schimmer auf sein Antlitz warf, so meinte ich doch auch bei ihm das Gefühl oder gar die Erkenntnis zu bemerken, dass etwas Ungeheuerliches, aber eben auch etwas Großartiges hinter diesem alten Gemäuer auf uns warte. Er griff das Amulett des heiligen Permictus in Silva, das ihm in sechster Generation vererbt worden war und das er stets an einer silbernen Kette um den Hals zu tragen pflegte, küsste es, dann schritt er entschlossen auf das Eingangstor zu. »Nun auf, junger Gefährte des Lichts«, sprach er, »die Mächte der Finsternis sollte man nicht warten lassen.« Und so zog er das Tor also auf.
Der Eindruck, der sich mir nun aufdrängte, war dem, den das Schloss von außen erweckte, so unähnlich nicht. Auch im Eingangsbereich waren Anzeichen des Verfalls nicht zu übersehen, wenn sie gleich nicht so auffällig waren wie draußen. Zu-nächst fiel dem Betrachter das Laub auf, das durch das Tor hineingeweht sein musste und nun Teile des Bodens vor der Rezeption bedeckte. Auch das Beseitigen der Spinnweben schien das Putzpersonal, sofern es ein solches denn gab, nicht als seine höchste Priorität angesehen zu haben; das Mauerwerk des Ganges, der zu dem Turm führte, wies etliche Risse auf, von denen sich einige von der Decke bis zum Boden erstreckten. Und dennoch, oder wahrscheinlicher: gerade deshalb verströmte der Eingangsbereich mit der hohen Decke und den staubbedeckten Rüstungen eine Atmosphäre, die dem empfindsamen Besucher nur zu deutlich verriet, dass er weit mehr betreten hatte als einzig ein heruntergekommenes Schloss, das nun als Hotel genutzt wurde. Und auch der Meister musste so empfunden haben, als er nun den Blick zur Decke streifen ließ und tief die Luft einzog.
Wir traten auf die Rezeption zu, hinter der eine junge Frau vor sich hin döste und uns noch gar nicht bemerkt hatte. Meister Walpurgius räusperte sich dezent und kaum, dass die Frau den verschlafenen Blick erhoben hatte, da sprang sie auch schon auf, riss sich das Kruzifix, das sie an einer Kette trug, vom Hals und streckte es uns entgegen. Und ich will gerne eingestehen, dass Meister Walpurgius mit seiner Haarpracht, die ihm vom Sturm zerzaust wild nach allen Seiten vom Kopf abstand, dem vor Kälte gänzlich erblassten Gesicht mit den vorstehenden Augen und dem rötlich-blonden Spitzbärtchen am Kinn in der Tat den Eindruck erwecken mochte, als sei er ein Vertreter just derjenigen Mächte, die zu bekämpfen wir doch ausgezogen waren.
»Gemach, junge Frau«, sprach der Meister mit einem sanften Lächeln. »Mich dünkt, Sie verwechseln uns. Nicht Abgesandte des Leibhaftigen sind wir, sondern Vertreter des Lichts. Wir sind von der Polizei. Ich bin Inspektor Pimmelschreck vom Mord-dezernat N.« Und an dieser Stelle sollte ich vielleicht anmerken, dass wir in der Öffentlichkeit nur unter unseren bürgerlichen Namen und Titeln auftreten. Man kennt ja die Vorbehalte, die gewisse Kreise Vertretern unseres wahren Berufsstandes entgegenbringen. Der Meister zog seine Dienstmarke aus der Innentasche seines Mantels und hielt sie der noch immer wie erstarrt wirkenden Frau hin. Der Anblick der Marke half dann jedoch bald, den gröbsten Schock zu überwinden, und sie schaffte es sogar, sich so etwas wie ein Lächeln abzuquälen. Nun stand sie einfach da und blickte uns fragend an.
»Wäre es möglich, dass Sie uns Herrn Jonathan von Pfützlibach melden? Wir hätten da noch ein paar Fragen. Nichts Ernstes, aber wie das so ist ...«
Sie wies in Richtung auf den Turm, bewegte ihre Lippen, doch wollten sich ihrem Mund keine Laute entringen.
»Wie bitte?«
Sie wies erneut auf den Turm und zeichnete dann mit den Fingern die Konturen einer Person nach. Der Meister schüttelte verständnislos den Kopf. Da nahm sie einen Stift und schrieb etwas auf ein Blatt Papier, das sie dann dem Meister reichte. Ich kann leihder nicht redn. Gehen sie am Besten hinter mia heer, stand darauf geschrieben.
»Ach, das tut mir leid, mein liebes Kind«, sprach der Meister in mitfühlendem Ton, und sie lächelte erneut, weitaus natürlicher dieses Mal. Dann setzte sie sich in Bewegung und führte uns bis ans Ende des Ganges, wo sich an der rechten Seite eine Tür befand, die, wie ich vermutete, zum Turm führte. Sie öffnete die Tür, und ich hatte mich nicht getäuscht. Vor uns tat sich nun eine verwitterte Wendeltreppe auf, die allein von einigen Kerzen beleuchtet wurde, die in unregelmäßigen Abständen in an der Wand befestigten Haltern steckten. Oben angekommen befanden wir uns vor einer Tür, an die sie zunächst verhalten, dann, als keine Antwort zu vernehmen war, etwas fester klopfte.
»Was gibt’s?«, kam es schließlich von innen. Sie öffnete die Tür und trat einen Schritt in den Raum. Drinnen streckte sie den rechten Zeige- und den Mittelfinger vor und tippte mit dem linken Zeigefinger auf die Spitzen der beiden Finger.
»Du willst dir die Fingernägel schneiden?«
Sie schüttelte den Kopf und streckte dann zweimal hintereinander den Daumen vor.
»Zwei?«
Sie nickte. Als Nächstes zeigte sie mit dem linken Zeigefinger auf ihren Mund und bewegte dann den Daumen und die vier Finger der rechten Hand aufeinander zu und wieder auseinander, sodass das Bild eines sprechenden Mundes entstand.
»Essen? Sind da draußen zwei Leute, die essen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wollen die zwei was essen?«
Mit ungeduldiger Miene schüttelte sie erneut den Kopf. Nun versuchte sie es, indem sie ihre Lippen in rascher Folge auf und ab bewegte.
»Reden? Die beiden wollen reden?«
Sie nickte. Und nun führte sie die beiden Zeigefinger wie zwei Hörner an die Stirn.
»Eine Kuh? Was hat hier eine Kuh im Schloss zu suchen?«
Doch sie schüttelte energisch den Kopf. Erneut bildete sie mit den beiden Zeigefingern zwei Hörner, senkte nun aber zusätzlich noch den Kopf und tat, als wolle sie damit jemanden aufspießen.
»Ein Stier? Oder vielleicht ein Bul … Sind da etwa zwei Polizisten, die mich sprechen wollen?«
Sie erstrahlte und nickte.
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