Stefan Bruweleit: Inspektor Kolluvies und der Nebelflitzer (Anfang des Romans)
Gespenstisch hallten unsere Schritte durch die men-schenleere Hafenstraße, die ihren Namen aus der glücklichen Zeit herübergerettet hatte, als W. noch über einen Hafen verfügte und sich nicht ohne eine gewisse Berechtigung als Stadt bezeichnen konnte. Doch das war lange her. Möglicherweise war der Ort inzwischen noch weiter heruntergekommen, seit ich ihn zwei Jahren zuvor das letzte Mal besucht hatte, doch gnädigerweise hatte sich vom Fluss V. kommend ein leichter Nebel ausgebreitet und verdeckte nun zumindest das gröbste Elend. Seinen Ausgang genommen hatte der Niedergang, soweit ich sagen kann, mit der Schließung der Großfleischerei, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil der Einwohner seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Das war natürlich ein schwerer Schlag gewesen, doch noch hatte das Schlimmste verhindert werden können, denn noch immer waren jene Touristenscharen in die Stadt geströmt, um deren ganzen Stolz zu besuchen und zu bewundern: die Hechtsprung.
Die Hechtsprung war der Nachbau des Schiffes des legendären Piraten Heribert Hechtsprung, der seine tollsten Streiche zwar draußen auf hoher See vollbracht hatte, aber immerhin in W. zur Welt gekommen war und diese später an einem Galgen baumelnd auch hier wieder verlassen hatte. Ich selber habe das Schiff zwar nie gesehen, doch imposant war es gewiss anzuschauen gewesen mit seinen gewaltigen Masten, die sich majestätisch in den Himmel gereckt hatten. Wie groß war dann das Erstauen, als man den Anlegeplatz der Hechtsprung eines Morgens verwaist vorgefunden hatte. Doch war sie keineswegs gestohlen worden; nein, vielmehr schien es niemandem in den Sinn gekommen zu sein, dass der Zahn der Zeit selbst vor Wahrzeichen keinen Halt macht, und so hatte es auch keiner für notwendig gehalten, den Rumpf dann und wann zu inspizieren. Hätte man dies getan, hätte man womöglich bemerkt, dass die Planken, aus denen dieser bestand, bereits völlig verfault gewesen waren und dringend hätten ausgewechselt werden müssen. So aber versank die Hechtsprung eines Nachts sang- und klanglos und vermoderte seitdem unter der Wasseroberfläche vermutlich noch schneller, als es die Stadt einige Meter weiter oben tat.
Und nach Jahren des lautlosen Dahinsiechens stand W. nun plötzlich wieder in den Schlagzeilen. Ein Mord war geschehen. Und zwar ein Mord von solcher Grausamkeit, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Ich erinnere mich noch genau, wie nachdenklich Inspektor Kolluvies wirkte, der in jenen späten Abendstunden neben mir durch die Hafenstraße schritt, und fragte mich, ob er nicht damals schon ahnte, welche Schrecken die kommenden Tage noch für uns bereithalten würden.
Ja, ganz recht, ich spreche von dem Inspektor Kolluvies, der erst wenige Monate zuvor den Fall um den unheimlichen Serienmörder hatte lösen können, der das Anwesen seines Freundes Alfons Graf zu Amentes unsicher gemacht hatte. Mir war damals die Ehre zuteil gewesen, dem Inspektor bei jenem berühmten Fall assistieren zu dürfen, und nun befand sich Kolluvies auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und seines Könnens. Nicht dass ihm Ruhm und Ehre viel bedeutet hätten. Nein, dies zu behaupten, hieße, sein Wesen gänzlich falsch einzuschätzen. Wie allen großen Männern ging es ihm einzig darum, sich und seinen Genius stets neuen Herausforderungen zu stellen, um diese zu meistern und an ihnen zu wachsen. Bereits kurz nach Abschluss des Falles auf dem Anwesen der zu Amentes hatte ich bemerkt, wie sein unruhiger Geist nach einer neuen Herausforderung gierte, und hier nun war sie endlich gegeben.
W. lag eigentlich außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Morddezernates von N., in dem wir tätig waren. Da W. jedoch lediglich über eine Polizeiwache mit gerade einmal zwei hauptberuflichen Beamten verfügte, die dem Fall kaum gewachsen gewesen sein dürften, so entschied man sich, einen Ermittler vom Range eines Kolluvies nach W. zu schicken, um die Sache in die Hand zu nehmen.
Und an dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass wir dieses Mal nicht alleine waren. Begleitet wurden wir von Lukas, einem ehemaligen Bedienten des mittlerweile verstorbenen Alfons Graf zu Amentes. Auch wenn Lukas bisher hauptsächlich als Pferdebursche und Gärtner beschäftigt gewesen war, so hatte er durch seine beherzte Hilfe bei der Lösung des Falles, der sich auf dem Anwesen zugetragen hatte, doch eindrucksvoll bewiesen, dass er durchaus die Fähigkeiten besitze, einmal ein tüchtiger Ermittler zu werden. Kolluvies hatte ihn also ermutigt, in einem zweimonatigen Kurs an der Abendschule einen Schulabschluss nachzuholen und dann in den Polizeidienst einzutreten. Und hier nun war er. Motiviert und beglückt bis über beide Ohren, nun auch ganz offiziell an der Lösung eines Verbrechens mitwirken zu dürfen, schritt er neben uns durch die nebelverhangene Hafenstraße.
»Seht euch das an!«, sagte Kolluvies mit einem Male und wir hielten inne.
Und nun sah auch ich es. In weißer Farbe war auf dem Bürgersteig der Umriss einer darniederliegenden Person gezeichnet. Ich hatte nun einen Verdacht, wo wir uns befanden. »Ist das eine Markierung von der Polizei?«, fragte ich.
»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Kolluvies, der die Zeichnung mit großem Interesse betrachtete. »Das stammt von der Person, die wir suchen: vom Mörder.«
»Der Mörder hat das gemacht?«, fragte Lukas nach.
»So steht´s in dem Bericht, den mir die Kollegen aus W. geschickt haben. Die Linien um den Leichnam der armen Hilde J. waren bereits da, als man sie fand. Und was sagt uns das?«
Ich blickte von Kolluvies zu Lukas, der jedoch ebenso ratlos zu sein schien wie ich selber. Der Inspektor hatte hingegen wohl auch keine Antwort von uns erwartet. Mit nachdenklicher Miene umschritt er die Zeichnung.
»Was könnte in der Nacht von Sonntag auf Montag hier geschehen sein?«, begann er dann und schabte sich das Kinn. »Wir wissen, dass Hilde J. in der Georg-Straße Nummer 15 gewohnt hat. Das ist die Straße dort unten, an der wir eben vorbeigekommen sind und in der, wenn man so will, das Rotlichtmilieu der Stadt angesiedelt ist. Gegen 1:30 Uhr wird sie von ihrer Zimmernachbarin gesehen, wie sie gerade das Haus verlässt. Sie sagt, sie wolle noch ein wenig, wie sie sich ausdrückt, auf die Pirsch gehen. Wir wissen, dass es vorgestern Nacht kühl und nebelig war. Die arme Hilde muss also arg in Geldnöten gewesen sein, wenn sie trotzdem so spät noch aus dem Haus gegangen ist, um Kundschaft zu finden. Sie geht also die Georg-Straße entlang, bis sie an die Hafenstraße kommt und in diese einbiegt. Dort begibt sie sich nun in unsere Richtung, und als sie hier ist, trifft sie auf ihren Mörder, vermutlich einen Mann, der vorgibt, an ihren Diensten interessiert zu sein. Man plaudert ein wenig über allgemeine Dinge, kommt dann aber bald zur Sache und einigt sich auf den Preis, denn schließlich ist es recht kühl. Gerade wendet Hilde sich um, will ihren ver-meidlichen Kunden auf ihr Zimmer in die Georg-Straße führen, da fasst er sie von hinten, presst ihr mit der Hand den Mund zu, während er mit der anderen ...« Er lässt den Satz unvollendet und fährt sich stattdessen mit dem Zeigefinger über die Kehle. »Der Einschnitt ist tief, reicht bis zum Halswirbel, sie hat also keinerlei Möglichkeit zum Schreien, sondern fällt zu Boden. Und was macht der Täter nun? Raubt er die Frau aus? Nein, die ist bettelarm, da ist nichts zu holen. Macht er sich schleunigst aus dem Staub? Dann seht euch mal um. Die Straße ist zwar nur sehr mäßig beleuchtet, aber völlig dunkel ist es hier auch nicht. Selbst bei Nebel dringt noch ein wenig Licht von der Straßenlaterne dort drüben hierher. Aber nein, er flüchtet nicht, sondern nimmt sich noch die Zeit, sorgfältig mit Pinsel und Farbe die Konturen seines Opfers auf den Bürgersteig zu malen. Warum?« Er blickte uns an.
»Vielleicht wollte er eine Art Markenzeichen hinterlassen«, schlug ich vor.
Der Inspektor hob den Zeigefinger. »Das ist eine gute Idee, Fiedler«, lobte er. »Jedes Produkt, das sich verkaufen will, braucht ein Markenzeichen oder zumindest einen einprägsamen Namen. Und das Produkt, das unser Täter an den Mann bringen will, sind eben Leichen. Er mordet nicht einfach, er will, dass man sich an ihn erinnert, dass man sein Werk, sein Produkt, erkennt, wann immer man es sieht. Und was sagt uns das wiederum?« Erneut sah er uns an, doch dieses Mal wollte mir nichts Gescheites einfallen. »Dass er erst angefangen hat«, half er uns. »Man schafft sich kein Markenzeichen, wenn man es bei einem Einzelstück belassen will. O nein, unser Mann wird in Serie produzieren, das versichere ich euch.« Er fuchtelte wild mit den Armen umher, wie er es bei Aussicht auf Serienmorde stets zu tun pflegte. »Denkt an meine Worte.«
Ich wollte mich schon zum Gehen wenden, da wies Kolluvies ein weiteres Mal auf den Umriss. »Fällt euch da nicht noch etwas auf?«
»Die haben das Blut noch nicht aufgewischt«, bemerkte Lukas.
»Sehr gut beobachtet!« Kolluvies schien heute wirklich seine Freude an uns zu haben. »Allerdings ist es kein Blut, sondern rote Farbe. Und zwar Farbe, die vor noch gar nicht langer Zeit hier aufgetragen worden ist, wie man am Geruch erkennt.« Er bückte sich und berührte den Fleck, der sich von dem aufgemalten Hals auf die Straße zu erstreckte und einen Durchmesser von etwa vierzig Zentimetern aufwies. »Ja, noch ganz frisch. Wurde vermutlich erst vor gut einer Stunde aufgetragen.« Er blickte uns an. »Was hat das nun wieder zu bedeuten? Warum malt jemand das Blut mit Farbe nach? Laut Bericht hat man das Blut am Morgen nach dem Mord weggewischt. Man sieht noch, dass hier am Kopf und an den Schultern die weiße Farbe etwas verwaschen ist. Aber warum malt jemand das Blut nach? Und wer?« Mit nachdenklicher Miene massierte er sein Kinn. Dann schüttelte er den Kopf. »Doch kommt, es ist schon spät. Wir sollten jetzt erst einmal unsere Unterkunft aufsuchen.«
Wir gingen die Hafenstraße weiter entlang und nach gut hundert Metern hielt Kolluvies erneut inne. »Hier muss es sein.« Wir bogen nach links in eine Auffahrt, die zu einem Gebäude führte, und ich betete, dass dies nicht das Hotel sei, in dem wir die kommenden Tage zu verbringen hatten. Auch trotz des Nebels ließ sich nur zu deutlich erkennen, dass sich die Bude in einem ähnlichen Zustand befand wie auch der Rest der Stadt. Die Fassade war von einem verwaschenen Grau, die Fenster hatten weder Gardinen noch Vorhänge und nur der Name Hechtsprung, der auf einem windschiefen Schild über dem Eingang zu lesen war, deutete an, dass irgendwann einmal auch hier bessere Zeiten geherrscht haben mochten. Doch waren diese lange vergangen.
Meine Befürchtungen bewahrheiteten sich: Es war unser Hotel.